„Warte Marte, warte“, ist eine Geschichte darüber, dass man im Leben nie aufhören sollte, Dinge zu hinterfragen und nach eigenen Antworten zu suchen. Ein Plädoyer dafür, sich selbst zu trauen, die Seele fliegen zu lassen und den Dingen auf den Grund zu gehen. 



Jedes Kind kennt dieses Gefühl: Etwas beschwert das Herz. Etwas stimmt nicht. Man ist nicht mehr klein, aber auch noch nicht groß. Es entstehen viele existenzielle Fragen: Was soll das alles hier? Wo will ich hin? Wer bin ich? Und die Erwachsenen haben keine befriedigenden Antworten mehr. Es gilt nun, eigene Wege zu finden und zu gehen. 

Auch Marte, die Hauptfigur der Geschichte, ist in dieser Situation. Etwas drückt sie, sie kann aber nicht benennen, was ihr fehlt. Also geht sie auf ihre persönliche Reise und lernt sich dabei selbst kennen. Die jungen Leser*innen können sich gut mit Marte identifizieren. 

Der Text folgt einer klassischen Heldengeschichte: Eine, die auszieht, Abenteuer erlebt, um daraus gestärkt hervorzugehen. Die Erzählweise ist dabei poetisch, philosophisch, ohne abzuheben. Die symbolischen Bilder vom „Seele befreit fliegen lassen“ und „den Dingen auf den Grund zu gehen“, erschließen sich schnell und deutlich ohne platt zu sein. Die Handlung vermittelt eine Botschaft, ohne den Zeigefinger zu heben.

Leseprobe gefällig?

Marte war ein kleines, zierliches Mädchen. Meistens trug sie ein rotes Mäntelchen und eine rote Mütze aus Wolle. Ihr Mantel hatte keine Ärmel, so dass die dünnen Ärmchen an beiden Seiten hervorstanden wie Triebe an einem Kirschbaum. Auch die Beine lugten wie Besenstile unter dem Saum hervor.

Obwohl Marte zierlich und leicht war, fühlte sie sich oft schwer. Unter dem Mantel versteckt gab es nämlich einen großen Raum. In ihm schlug ein Herz und es gab darin Luft zum Atmen. Daher bewegte sich der Raum auf und ab, schlug hin und her. Das alles geschah ganz von allein, ohne das Marte etwas dazu tun musste. Doch neben dem roten Herz und der grünen Luft, gab es noch etwas in diesem Raum. Etwas, das drückte, etwas, das zu klemmen schien, etwas, das nicht von selbst funktionierte, etwas, das sich wie ein schwerer, schwarzer Stein anfühlte. Was das war, wusste Marte nicht. Sie wusste nur, dass es an manchen Tagen eher klein und an anderen wiederum riesengroß war. Und das machte ihr Angst.

Marte lebte in einem kleinen Dorf mit Häusern und Bäumen. Die Häuser hatten rote Dächer und die Bäume grüne Blätter. Inmitten der Häuser und Bäume rakte ein grauer Berg hervor. Er sah aus, als hätte ein Riese mit Kieseln gespielt und diese mit seiner großen Hand zu einem Gebilde übereinander getragen, das aus vielen, mächtigen Steinen bestand. Ganz unten, am Fuße des Berges, waren die Steine breit und schroff. Zur Spitze hin wurden sie immer kleiner und runder. Kein Bewohner des Dorfes hatte den Berg je betreten, denn es ging die Sage, dass Menschen, die den Gipfel erklimmen wollten, das Steingebilde zum Einsturz bringen und somit das Dorf für immer zerstören würden.

Häuser, Bäume und Berg standen auf einem weichen Untergrund und manchmal, in windigen Nächten, schien es, als würde sich die Erde leicht bewegen. Der Boden bestand aus allen Farben. An manchen Stellen war er blau, an manchen orange. Es gab sogar Flecken, die aussahen, als hätten sie Muster, karierte und getupfte, linierte und geblümte. Kein Bewohner des Dorfes war je in den Grund hinabgestiegen, denn es ging die Sage, dass Menschen, welche Löcher und Höhlen in den Boden graben würden, das Fundament des Dorfes zum Einsturz bringen und somit Häuser und Bäume für immer zerstören würden.

Marte aber war neugierig. Sie wollte alles wissen. Sie wollte wissen, was der Grund war und wie es bergauf ging. Sie wollte Antworten bekommen auf die Fragen, was sie bedrückt oder wer diese komische Beklemmung tief in ihr hervorrief.

Oft versuchte sie, ihren Eltern all diese Fragen zu stellen. Aber die hatten entweder keine Zeit für die kleine Marte (ihr müsst wissen, dass sie tagein tagaus harter Arbeit nachgingen) oder sie wichen einer Antwort aus, indem sie sagten: „Wir versorgen dich gut, an was sollte es dir fehlen?“ oder „Gott hat den Berg und den Boden geschaffen, um uns zu zeigen, wo oben ist und wo unten und das sollten wir Menschen nicht in Frage stellen.“ - „Alles fügt sich harmonisch zusammen“, sagte die Mutter, „alles ist gut.“ - Und der Vater fügte hinzu: „Irgendwann wirst du es verstehen, mein Mädchen. Warte nur, bist du groß bist. Warte Marte, warte!“


Aber auf was sollte Marte warten und wie lange? Darauf, dass sie so groß wurde wie die anderen Dorfbewohner? Sie hatte nicht den Eindruck, dass die wirklich Antworten auf ihre Fragen hatten. Darauf, dass ihr dieser Gott begegnen würde, von dem die Eltern sprachen? Aber sie hatte ihn noch nie gesehen und wusste gar nicht, ob es ihn wirklich gab. Vielleicht, so dachte Marte, nutzt warten ja gar nicht. Vielleicht, so dachte Marte, muss ich darüber nachdenken, was ich tun kann, um selbst Antworten zu finden.



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